Aktionäre besiegelten das Aus am Thüster Bahnhof
Vor knapp 50 Jahren wurde der öffentliche Zugverkehr zwischen Salzhemmendorf und Delligsen eingestellt
Thüste (gök). Letztes Jahr wurde der Radwanderweg eröffnet. Nachdem er am Anfang noch etwas weich war, fahren mittlerweile viele Radfahrer über die ehemalige Bahntrasse von Weenzen nach Thüste oder wieder zurück. In Thüste angekommen können die Radfahrer durch den Ort zum ehemaligen Bahnhof gelangen. Unter dem hohen Unkraut oder der Schneedecke lassen sich die Schienen noch erahnen. Die Firma von Patrick Truckenbrodt hat in den letzten Jahren die Schienen zwischen Bahnhof Levedagsen und Duingen nach und nach entfernt und den Stahl verwertet, damit der Radwanderweg weiter durch die Gemeinde vorangetrieben werden kann. Vor knapp 50 Jahren sah es auf dem Gelände um den Thüster Bahnhof noch ganz anders aus.
Bis Mitte der sechziger Jahre herrschte ein intensiver Personennahverkehr mit Dampfloks sowie Güterverkehr für das Kalkwerk in Salzhemmendorfer, die Thüster oder die Duinger Betriebe. Doch der Beginn der Bahnstrecke zog sich auch schon im 19. Jahrhundert etwas hin. Bereits 1873 wurde im Preußischen Abgeordnetenhaus durch den Abgeordneten Sander aus Elze für eine Bahnstrecke durch die Ith-Hils-Mulde plädiert. Auf Betreiben der Kalkbrennerei kam 1887 Bewegung in die Idee. Nach einigen Diskussionen und Möglichkeiten wurde 1895 schließlich der Firma Vering & Waechter die Konzession für den Betrieb einer Kleinbahn von Voldagsen nach Duingen erteilt. Der ersten Streckenabschnitt von Voldagsen bis Salzhemmendorf wurde innerhalb von neun Monaten gebaut und der weitere Abschnitt bis Duingen in einem weiteren Jahr. 1899 wurde schließlich der Vertrag mit der Firma geschlossen, den Bau bis Delligsen abzuschließen. Dieser dauerte dann etwa anderthalb Jahre bis März 1901, so dass ab 1. Juli 1901 regelmäßiger Wagenladungsverkehr bis Hohenbüchen und ab 11. August der Gesamtverkehr bis Delligsen rollte. Eine weitere Verlängerung der Strecke bis Wispenstein mit einem Übergabebahnhof an die Bahnstrecke Hannover-Göttingen wurde aufgrund des hohen finanziellen Aufwandes nicht umgesetzt. Eine Diskussion um den Weiterbau gab es auch in den dreißiger Jahren noch einmal, doch auch hier gab es zu hohe finanzielle Hürden.
Durch den fehlenden Anschluss hinter Delligsen verlor die Strecke ab den fünfziger Jahren immer mehr an Bedeutung im Güterverkehr. Umliegende Firmen verlagerten ihre Transporte immer mehr auf Lastkraftwagen, was zu einem teilweisen Rückbau von Anschlussgleisen führte. Als dann auch noch eine Gasleitung zur Glashütte in Grünenplan verlegt wurde, blieben auch die Kohletransporte bis Hohe Warte aus, von wo sonst eine Drahtseilbahn die Kohle nach Grünenplan transportierte. Bis 1957 waren die Kalkwerke entlang der Strecke verschwunden, doch von den Dolomitwerken in Salzhemmendorf, der Brikettfabrik in Thüste sowie durch die Sandgruben in Duingen gab es noch einen regen Güterverkehr. Die Ziegelei in Weenzen wurde nicht mehr bedient, nachdem diese 1955 ausbrannte und die Produktion danach nicht mehr aufgenommen wurde. Aber auch für die Landwirtschaft war die Strecke von Bedeutung. Viele Menschen kennen noch die Rübenverladestation am ehemaligen Bahnhof Levedagsen, die von der Gronauer Rübenzuckerfabrik 1951 dort errichtet wurde. Auch in Lauenstein entstand 1957 eine Hochrampe, die durch die Landwirtschaft genutzt wurde und immer noch vorhanden ist. Vorher wurden Güter für das dortige OKAL-Werk mittels Straßenrollern ab dem Lauensteiner Bahnhof transportiert. Während der Personenverkehr auf der Strecke immer mehr zurückging, gab es 1963 noch ein kurzes Hoch im Güterbereich durch ein neues Sinterdolomitwerk in Salzhemmendorf. Im Personenverkehr verkehrten 1956 an Werktagen noch acht Zugpaare zwischen Voldagsen und Duingen, zwei Zugpaare zwischen Duingen und Delligsen und ein Zugpaar zwischen Voldagsen und Salzhemmendorf. 1964 waren es nur noch sechs Zugpaare zwischen Voldagsen und Duingen, während zwischen Voldagsen und Salzhemmendorf weiter nur noch das eine Paar fuhr. Der Personenverkehr zwischen Duingen und Delligsen war bedeutungslos und wurde 1963 eingestellt. Im Juni 1966 versetzte die Schließung der Thüster Brikettfabrik Humboldt auch der Bahn den Todesstoß. Die Deutsche Eisenbahn-Betriebs-Gesellschaft DEBG sah anschließend keine Möglichkeit mehr, auf der Kleinbahn Voldagsen-Duingen-Delligsen (VDD) die Verluste zu decken. Liquiditätsreserven waren nicht mehr vorhanden und so wurde noch im selben Monat im niedersächsischen Wirtschaftsministerium der Antrag von der Befreiung von der Betriebs- und Beförderungspflicht gestellt.
Die DEBG hätte die Bahn aber weiter betreiben können. Denn obwohl die Brikett-Transporte aus Thüste mit 70 000 Tonnen im Jahr wegfielen, wollte der Unternehmer Dr. Bock aus Duingen jährlich rund 130 000 Tonnen Sand von seinen Sandkuhlen verfrachten. Doch die DEBG hatte augenscheinlich kein Interesse daran und war froh einen Grund für den Antrag auf Stilllegung gefunden zu haben. Mit den Sandtransporten hätte die VDD wirtschaftlich wieder besser dagestanden und das Geschäft wohl rentabel gemacht. So aber setzten die am Bahnbetrieb desinteressierten Aktionäre alles daran, den Betrieb einzustellen. Trotz zahlreicher Proteste – vor allem von den Dolomitwerken sowie von der Gronauer Rübenzuckerfabrik – wurde dem Stilllegungsantrag mit Wirkung vom 27. Mai 1967 entsprochen. Auch das Einschalten der Gewerkschaft und eines Wirtschaftsprüfers ergab kein Umdenken mehr, obwohl der Wirtschaftsprüfer die Strecke als rentabel beschrieb. Streitpunkt war auch die Investition in das Streckennetz durch die Landkreise Hameln-Pyrmont und Alfeld, da einige Teile der Strecke saniert werden hätten müssen. Am 8. März 1967 gab es aufgrund dreier verfaulter Bahnschwellen sogar einen Bahnbetriebsunfall, der allerdings glimpflich ausging. Friedhelm Roloff war damals in dem Zug auf dem Weg zur Schule und erinnert sich noch genau an den Tag. „Der letzte Personenwagen entgleiste und kippte schließlich um. Wir hatten uns zwar sehr erschrocken, es war aber keinem etwas passiert und wir amüsierten uns sogar darüber. Die Schüler der Mittelpunktschule hatten dann frei bekommen und konnten nach Hause. Zusammen mit meinen Klassenkameraden mussten wir aber in einen der vorderen Waggons wechseln und fuhren nach Salzhemmendorf. Dort durften wir dann noch am Vormittag einen Aufsatz schreiben! Vor dem Unfall hatten wir im Zug noch Karten gespielt und erst nach der Weiterfahrt unser Skatspiel fortgesetzt. Das wäre wohl heute nicht mehr denkbar“, so Roloff.
Nachdem die Strecke schließlich nicht mehr betrieben wurde, wurde danach nur der Abschnitt Voldagsen bis Salzhemmendorf genutzt, wo heute noch Güterzüge fahren und regelmäßig Fracht vom Werk der Firma Rheinkalk befördern. Nach der Stilllegung fuhren Museumszüge noch einige Jahre über die Strecke von Voldagsen bis Duingen. An die Schilder an den Zügen wie „Blumen pflücken während der Fahrt verboten“ erinnern sich noch viele Menschen aus der Region nostalgisch zurück. Vor einigen Jahren wurde die Strecke zwischen Salzhemmendorf und Duingen dann komplett stillgelegt und von den Gemeinden Salzhemmendorf und Duingen übernommen. Der Radwanderweg von Weenzen nach Thüste soll nach dem Willen vieler Politiker irgendwann noch weitergeführt werden. Erinnert wird an die alte Strecke vor allem noch am Thüster Bahnhof. Hier betrieb Heinrich Sonnemeyer lange Jahre sein Gasthaus gegenüber des Bahnhofes. Das Gasthaus ist zwar schon seit 2005 geschlossen, doch die Familie Sonnemeyer nutzt das große Haus immer noch als Wohnhaus. Zu weilen hatte sich Heinrich Sonnemeyer in der Vergangenheit über Eisenbahnfreunde geärgert, die ohne zu Fragen über sein Grundstück gelaufen und dort Fotos von den alten Gleisanlagen geschossen haben, die im Bereich des Bahnhofes noch nicht zurückgebaut wurden. Doch das hat etwas abgenommen. Als Schüler erinnert er sich noch genau an die Personenzüge. „Der erste Zug morgens um halb vier war noch ein kombinierter Personen- und Güterzug. Durch das ewige rangieren unterwegs kam ich so dann nie pünktlich im Hotel in Hannover an, wo ich nach der Lehre noch gearbeitet habe“, so Sonnemeyer. Die Lokführer kannten die Schüler in den Orten ganz genau. Wenn einer spät dran war und den Kirchsteig zum Bahnhof runterrannte, haben die Lokführer damals auch mal gewartet. Geld für Verspätungen im Zugverkehr gab es damals noch nicht zurück.
Wenn sich die Aktionäre der Betreibergesellschaft damals zu einer Fortführung des Betriebes entschlossen hätten, wäre die Industrie in Thüste vielleicht nicht so massiv zurückgegangen. Heute sind zwar einige Firmen im Ort ansässig, doch damals gab es auch noch viele Geschäfte in dem kleinen Ort. Auch drei Kneipen konnten zeitgleich existieren, weil es so viele Arbeiter in dem kleinen Ort im Saaletal gab. 2005 schloss dann mit dem Gasthaus Sonnemeyer die letzte Kneipe im Ort.
Foto1: An dem ehemaligen Gasthaus Sonnemeyer ist noch der Schriftzug zu erkennen
Foto4+11: Der Thüster Bahnhof 2016
Foto9: Richtung Duingen vom Thüster Bahnhof ist noch die Gabelung Richtung Brikettfabrik zu erahnen
Foto14: Die ehemalige Bahnstrecke zwischen Weenzen und Thüste wird als Randwanderweg genutzt
Foto15: An die Ziegelei in Weenzen unweit der Bahnstrecke erinnert nur noch ein Straßenname
Foto16: Am Duinger Bahnhof stehen noch einige Lokomotiven und Waggons auf den restlichen Gleisen
Foto20: Im Duinger Industriegebiet sind noch ein paar Schwellen im Boden übrig geblieben
Foto24: Einige Bahnschwellen im Duinger Industriegebiet erahnt man noch unter dem Schnee
Foto25: Am Bahnhof Eggersen zeugt noch ein Bahnhofsschild von der alten Zeit
Foto27: Am Werk von Rheinkalk in Salzhemmendorf findet noch Güterverkehr statt
Foto28+31: Auch am Salzhemmendorfer Bahnhof stehen noch einige Waggons
Foto34+35+: Die Laderampe am Lauensteiner Bahnhof ist auch noch existent
Foto36: Der letzte Güterzug in Thüste am 27. Mai 1967 (Foto Hans Seebaum)
Foto37: Der Bahnhof Thüste früher in der Lage mit Anschluss an die Brikettfabrik
Foto42: Der Thüster Bahnhof um 1964
Foto38: Der Duinger Bahnhof um 1964
Foto39: Der Thüster Bahnhof um 1967
Foto40: Der Bahnbetriebsunfall bei Levedagsen am 8. März 1967
Foto41: Seit 1980 konnten Dampfzüge in Salzhemmendorf wieder mit Wasser versorgt werden