Als der Schweinehirt noch die Kinder unterrichtete
Lübbrechtser Kapelle feiert 400jährigen Geburtstag / Fest im September geplant
Lübbrechtsen (gök). Passend zum Jubiläum 500 Jahre Reformation wird auch in Lübbrechtsen dieses Jahr ein großes Jubiläum gefeiert. Lübbrechtser Bürger hatten 100 Jahre nach der Reformation den dringenden Wunsch ein eigenes Gotteshaus im Dorf zu besuchen. „Bei der Recherche in unseren alten Kirchenbüchern finden sich zahlreiche Hinweise auf den beschwerlichen Weg hin zum Bau einer eigenen Kapelle in Lübbrechtsen vor jetzt 400 Jahren“, so Ursula Senne, die lange Jahre als Bürgermeisterin Hoyershausen, Lübbrechtsen und Rott vorstand. Im Jahr 1617 hatte Pastor Grovenius in Hoyerhausen seinen Pfarrsitz, wobei das Kirchspiel damals aus den Dörfern Hoyershausen, Dehnsen, Lütgenholzen, Rott und Lübbrechtsen bestand. Es war keineswegs von der Amtskirche gewollt, dass immer neue Kirchen oder Kapellen gebaut wurden. Nachdem die Rotter Bürger schon 1564 nach langem Bitten und Verhandeln ihre eigene Kapelle gebaut hatten, wollte die Obrigkeit auf keinen Fall auch noch eine Kapelle in Lübbrechtsen. Doch die Lübbrechtser wollten einen Ort zum Beten im Dorf. Gemeinsam wurde die große Aufgabe gemeistert, wozu einige Geldspenden aufgebracht werden mussten. Aus den Brüchen im Külf kam das Baumaterial, wozu neben der anstrengenden Feldarbeit die Fahrdienste von den Hofstellen geleistet wurden. Den Transport für den Stein für den Altar aus Osterwald übernahm mit dem Köthner Glenewinkel ein Vorfahr von Ursula Senne, die daher einen ganz besonderen Bezug zu der kleinen Kapelle hat. Drei zusammengesetzte Steinplatten bilden in der Kapelle die ungewöhnliche Altarwand. Im Allgemeinen sind die Altäre der umliegenden Kirchen aus Holz. Warum in Lübbrechtsen dagegen Stein gewählt wurde ist unklar. Die Bemalung führte Meister Claws Jünemann aus dem Eichsfeld aus. Im Kirchenbuch ist noch genau aufgeführt, wie er damals entlohnt wurde. Ein Teil der Bezahlung war damals Essen und Trinken, was bei Handwerksleistungen noch gang und gebe war. Ein schlichtes, fast naives Abendmalbild und die vier Evangelisten schmücken seitdem den Altar. Der Bildhauer konnte im Kirchenbuch dagegen nicht gefunden werden. Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Kapelle immer weiter. Bänke wurden aufgestellt und später auch ein Ofen installiert, der mittlerweile einer Elektroheizung Platz machte. Die kleine Glocke dagegen stammt noch aus der Zeit der Erbauung des Gotteshauses.
Neben viel Geld müssen die Bürger vor allem viel Zeit und Arbeit mit großem persönlichem Einsatz investiert haben. Es gab keine Zuschüsse aus öffentlichen Kassen, geschweige denn große Werkzeuge oder Kräne. Auch eine Kirchensteuer gab es nicht, die für solche Vorhaben so genutzt hätte werden können, die Leute waren auf sich allein gestellt. Nebenbei wurde von den Dorfbewohnern auch noch der Pastor bezahlt, wobei sich die Höhe nach der Größe der Hofstelle richtete. Es war genau festgelegt, wieviel Getreide der einzelnen Sorten und Geld an den Lehrer abgeliefert werden musste. Dieser führte dann den Zins an die Kirche oder direkt an den Pastor ab. „Für uns heute fast unvorstellbar, dass man all seine Kraft für einen Raum zum Beten einsetzt. Doch die Dorfbewohner wollten in einem eigenen Haus zusammenkommen“, so Senne immer noch beeindruckt.
Weil noch nicht alle Dorfbewohner lesen und schreiben konnten, waren sie auf die Küster oder Lehrer angewiesen, die aus der Bibel vorlasen und Betstunden abhielten. Die Kinder besuchten 1617 noch die Schule in Hoyershausen. Erst knapp 60 Jahre später ab 1676 wurden Kinder aus Lübbrechtsen nicht mehr im Kirchenbuch Hoyershausen aufgeführt, da es ab 1675 die erste Schule in Lübbrechtsen gab. Damals war höchstwahrscheinlich der Schweinehirt in Lübbrechtsen der erste Lehrer für die Schulkinder. Der Schulraum war in der Kate des Schweinehirten am Hirtenbrink. Die Kinder gingen aber nur in den Wintermonaten zur Schule. Im Sommer mussten sie ihren Familien auf dem Feld helfen. Der Schweinehirt hatte nicht nur die Aufgabe die Kinder zu unterrichten, sondern im Sommer war es seine überaus wichtige Aufgabe die Schweine des Dorfes zu hüten. Die Wälder wurden dabei als Hutewälder genutzt, wo der Lehrer dabei das große Vertrauen der Leute genoss. Denn er musste darauf achten, dass die Schweine gut genährt wurden. Gute Böden und das geeignete Futter sorgten dafür, dass gesunde Tiere nach dem Sommer wieder in die heimischen Ställe kamen. Das Überleben der Familien hing von einem gesunden Schlachtschwein ab. Wurde ein Tier krank und starb vielleicht sogar, musste die Familie sich sehr einschränken. Kam auch noch eine schlechte Ernte dazu, gab es oft Hungersnot. Die Bezahlung für das Hüten der Schweine und Lehren der Kinder wurde in Naturalien beglichen. Die Kate des Schweinehirt war laut dem Kirchenbuch aber eine erbärmliche Hütte. Die Lübbrechtser wurden darin als Geizhälse und Atheisten beschrieben, die Bezahlung des Schweinehirt wurde oft erst nach mehrmaliger Nachfrage beglichen. Für das Heizen der Schulstube mussten ihm die Kinder Holz mitbringen. Auch gehörte Getreide und die Nutzung von Weideland und dem Pfarrgarten zu seiner Entlohnung. Lange Zeit standen auf dem Grundstück der Kapelle Obstbäume, die später noch von den Dorflehrern abgeerntet wurden.
Immer waren Schulangelegenheiten kirchliche Aufgaben. Die Lehrer wurden später als Lektoren und Organisten verpflichtet, sie hielten Lesegottesdienste in der Kapelle. Der Lehrer Karl Ahrens hatte das Amt des Lektoren 30 Jahre inne, er war der letzte Dorflehrer in Lübbrechtsen und ging 1965 in Ruhestand. Die Kapelle wurde genutzt, um Fürbitten zu halten, wo für eine gute Ernte gebetet wurde. Die ersten Gottesdienste mit Abendmahl 1827 waren dann auch Hagelfeier und Erntedank, zu dessen Gottesdiensten dann der Pastor aus Hoyershausen kam. Nach dem verheerenden Brand 1729, bei dem Lübbrechtsen zu zwei Drittel abbrannte, wurde der Pastor verpflichtet am Jahrestag einen Gedenkgottesdienst zu halten. Doch er hielt sich nicht an die Absprache und wurde mehrmals vom Superintendenten zur Einhaltung ermahnt. Es gab immer wieder Querelen mit den Pastoren. Nach ihrer Auffassung mussten die Gemeindemitglieder die Gottesdienste in Hoyershausen besuchen. „Todt und lebendig in Hoyershausen“ steht in den Kirchenbüchern. Sonntäglich gingen die Leute meist zu Fuß nach Hoyershausen. Aus jedem Haus ging mindestens ein Familienmitglied zum Gottesdienst, wobei das meist die Kinder und Alten waren. Es ist im Kirchenbuch vermerkt, dass die Leute oft längere Zeit vor verschlossener Tür standen, weil der Pastor nicht rechtzeitig aufgestanden war. Es kam zu Beschwerden beim Superintendenten. Rügen wurden nicht selten erteilt. Zu den ab 1827 gehaltenen Gottesdiensten, Erntedank und Hagelfeier, in Lübbrechtsen, musste der Pastor mit Pferd und Wagen aus Hoyershausen geholt werden. Dieser Dienst wurde aufgeteilt. Oft wurde der Verpflichtung dabei nur widerwillig nachgekommen.
Auf Drängen der Lübbrechtser wurde im Jahr 1756 der erste Friedhof um die Kapelle eingerichtet. Bis zu der Zeit wurden die Verstorbenen in Hoyershausen beerdigt. Die Verstorbenen wurden in den Häusern aufgebahrt. Die Trauergemeinde kam um Abschied von den Toten zu nehmen. Danach wurde der Leichnam nach Hoyershausen gebracht. Schon 1839 war der Friedhof in Lübbrechtsen überfüllt. Ein neuer Bestattungsort wurde von der bürgerlichen Gemeinde eingerichtet. Auf dem Friedhof ist heute der Kinderspielplatz. Die auf dem Kapellenboden wiederentdeckten und zum Teil rekonstruierten Totenkronentafeln sind 2005 nach der 1150 Jahrfeier in Lübbrechtsen wieder angebracht worden. Die fünf Objekte stammen aus der evangelischen Gemeinde Lübbrechtsen. Es ist schriftlich belegt, dass sowohl in Lübbrechtsen als auch in der Umgebung der Brauch Totenkronenkonsolen in der Kirche aufzuhängen schon früh gepflegt wurde. Zusammen mit Studenten der Fachhochschule Holz in Hildesheim konnten einige Totenkronen den Lübbrechtser Familien zugewiesen werden.
Die Lübbrechtser Kapelle wurde im zurückliegenden Jahrhundert einige Male renoviert. Bei der letzten Renovierung 1994 wurde an der Rückseite des Altars eine Inschrift freigelegt, die auf den Pastor Grovenius 1617 und die beiden Kirchenvorsteher Hans Boden und Hans Stümpell hindeutete. Als die Renovierung 1994 abgeschlossen war, wurde am 26.Juni 1994 ein Einweihungsfest gefeiert. Die Gemeinde feierte ein Fest rund um die Kapelle. Seit 1995 gab es dann den besonderen Gottesdienst unter dem Fallschirm auf dem Hof von Jürgen Glenewinkel. Der große Lastenfallschirm bot 21 Jahre das Dach für diesen offenen Gottesdienst, wozu auch immer viele Auswärtige hinzukamen. Um die Kapelle auch außerhalb von Gottesdiensten für Besucher zu öffnen, finden regelmäßig Konzerte in der Kapelle statt. Knabenchor, Benkelsänger, Kinder der Musikschule oder Flötenensamble gaben schon Konzerte. Unter den alten Bäumen wird dann oft zum Verweilen bei einem Kleinigkeitenbuffet geladen. Besuchergruppen nutzen die Gelegenheit zu Führungen in der Kapelle sowie des Dorfes. Geöffnet ist die Kapelle immer für Besucher an Sonn- und Feiertagen. Seit sechs Jahren feiert Lübbrechtsen auch schon wieder einen Gottesdienst am Heiligen Abend. Gestaltet wird der Gottesdienst immer von jungen Gemeindemitgliedern, wodurch die Tradition des ehemals vom Dorflehrer mit Schulkindern gestalteten Gottesdienst wieder aufgenommen wurde.
Anlässlich des 400jährigen Bestehens der Kapelle wird in diesem Jahr ein Kapellenfest veranstaltet. Am Sonnabend den 9. September beginnt das Fest mit einem Konzert des „Kleinen Chors“ aus Duingen. Sonntag wird mit Superintendentin Katharina Henking um 11 Uhr dann ein Gottesdienst gefeiert. Den Gottesdienst begleitet die Gruppe „in Takt“. Anschließend wird zum „Dinner in white“ eingeladen, wozu die Besucher dann gebeten werden, in weißer Kleidung zu erscheinen. An weiß gedeckten Tischen soll ein gemeinsames Picknick den Tag abrunden. Die Gäste bringen dazu ihre Leckereien und die Getränke mit.
Foto1,10: Die Kapelle von Lübbrechtsen heute
Foto2: Der Altar besteht aus drei Einzelstücken
Foto3: 1994 wurde an der Rückseite eine Inschrift freigelegt
Foto4,5: Der Altar in Lübbrechtsen
Foto6,7,8,9: Die Todeskronen wurden aufbereitet und in Lübbrechtsen ausgestellt
Foto11: Die Kapelle von außen, Aufnahmedatum unbekannt
Foto12: Die Kapelle innen, Aufnahmedatum 1908
Foto13: Die Kapelle innen, Aufnahmedatum vor 1900