Von Europa, Afrika, den Himalaya wieder nach Lauenstein
Emotionale Heimkehr des Wandergesellen Ragnar Kessler
Von der Welt zurück ins Weserbergland: Nach über drei Jahren auf Wanderschaft kehrt der 24-jährige Zimmermann Ragnar Kessler in seinen Heimatort Lauenstein zurück – begleitet von über 50 Freunden, Familienmitgliedern und Weggefährten.
Lauenstein (gök). Ein Moment voller Symbolkraft: Es ist ein kühler aber sonniger Frühlingsnachmittag, als Ragnar Kessler mit seiner hellen, maßgeschneiderten Wandergesellenkluft und seinem wenigen Gepäck langsam auf das Ortsschild von Lauenstein zugeht. So wie er vor exakt drei Jahren und drei Monaten aufgebrochen ist, kehrt er nun zurück: zu Fuß, mit einem Lächeln im Gesicht und einem Hauch von Wehmut im Blick. Wieder klettert er mit Hilfe seiner Wandergesellen über das Ortsschild – eine Geste, die unter Wandergesellen Tradition hat. Damals bedeutete sie den Aufbruch in eine ungewisse Welt, heute den emotionalen Abschluss einer außergewöhnlichen Reise.
Kessler, der nach dem Abitur an der KGS Salzhemmendorf seine Leidenschaft fürs Handwerk entdeckte und sich zum Zimmermann ausbilden ließ, hat auf der Walz nicht nur Dächer gedeckt und Schiebetüren gebaut – er hat die Welt gesehen. Über 30 Länder hat er bereist: von Südeuropa über den Nahen Osten und Afrika bis zum Himalaya in Nepal, wo er schließlich vor dem majestätischen Mount Everest stand. Den tiefsten Punkt seiner Reise erreichte er am Toten Meer in Jordanien. „Ich wollte raus, etwas erleben. Vor der Walz war ich kaum unterwegs gewesen“, sagt Kessler rückblickend. „Aber ich habe es nie bereut. Die Walz ist ein toller Weg, die Welt mit wenig Geld zu sehen – und mit offenen Augen.“
Gearbeitet wurde fast überall: gegen freie Kost und Logis, wie es die Tradition verlangt. In Israel etwa fertigte er zwei Tage lang Schiebetüren, die er in der restlichen Zeit liebevoll verzierte – Arbeiten, die ihm besonders viel Freude machten. Auch in buddhistischen Klöstern in Nepal hat er mitangepackt. Unterwegs lernte Kessler nicht nur andere Zimmermänner kennen, sondern auch Freunde fürs Leben – und Emily. Die junge Leipzigerin wurde schon kurz nach seinem Aufbruch zu einem festen Bezugspunkt. „Nach vier Wochen auf Wanderschaft haben wir uns kennengelernt. Sie war mein Anker“, sagt er. Emily flog oder fuhr ihm hinterher – mit dem kleinen Polo über tausende Kilometer – nach Dänemark, Irland, Frankreich. Einmal begleitete sie ihn sogar vier Wochen auf der Walz, als stille Beobachterin. Heute ist Emily schwanger. Das Paar erwartet im Juli ihr erstes Kind. „Jetzt wird erstmal Leipzig unser Zuhause“, erklärt Kessler. „Emily wird ihre Ausbildung beenden, ich denke über den Meister nach. Was danach kommt – vielleicht ein Rückzug ins Weserbergland – das wird sich zeigen.“
Mehr als 50 Menschen empfingen Kessler am Ortsschild von Lauenstein. Freunde, Familie, sogar 20 Wandergesellen, die aus ganz Deutschland angereist waren. Der „Buschfunk unter Wandergesellen“, wie Kessler es nennt, hatte funktioniert. Im traditionellen Spinnermarsch begleiteten sie ihn die letzten Meter, Autos hielten an, Menschen klatschten, viele weinten vor Freude. Es war ein Moment zwischen zwei Welten: Auf der einen Seite seine alte „Wandergesellenfamilie“, auf der anderen seine Lauensteiner Familie. Die Übergabe war fließend und zutiefst bewegend. Die erste Umarmung war für Emily und die zweite für meine Mutter. Es folgte eine Willkommensfeier bei Onkel und Tante, wofür vorher noch eine Schnapsflasche ausgegraben wurde, die Kessler 2022 vor seiner Abreise vergraben hatte. Bis tief in die Nacht wurde die Heimkehr nach über drei Jahren schließlich gefeiert.
Seine Mutter, Andrea Nickel, wirkt erleichtert. „Ragnar ist gesund zurück. Er hat sich wunderbar entwickelt, ist so ruhig und ausgeglichen geworden. Die Wanderschaft war eine großartige Schule für Verantwortung und Reife.“ Besonders stolz ist sie auf den Krug des Rolandschachts, den Kessler zum Abschluss erhalten hat – darauf verzeichnet: alle wichtigen Stationen und Weggefährten seiner Reise. Auch Großvater Wilfried Kessler ist überglücklich. „1167 Tage war er unterwegs – jetzt können wir endlich wieder direkt sprechen.“ Der Rolandschacht, zu dem Ragnar gehört, ist eine Vereinigung traditionell reisender Handwerksgesellen. Als Erkennungszeichen tragen sie die blaue Ehrbarkeit – ein Symbol für ihre Werte und ihre Zunft.
Ob Kessler einmal selbstständig wird, weiß er noch nicht. „Ich habe viele Selbstständige kennengelernt, viel Bürokratie mitbekommen. Mal sehen.“ Sicher ist: Seine Liebe zum Handwerk, besonders zu feinen Projekten, bleibt. „Manchmal hat man etwas mehr Zeit – dann kann man kreativ werden. Das macht mir besonders Spaß.“ Die nächsten Wochen gehören nun dem Ankommen – in Leipzig, als werdender Vater, als Rückkehrer aus der Ferne. Doch Lauenstein bleibt für ihn Heimat. „Das Weserbergland ist wunderschön – das weiß man oft erst, wenn man weg war.“
Foto1729: Nach der Walz bekam Ragnar Kessler seinen Krug als Erinnerung überreicht
Foto1734: Im Spinnermarsch ging es über die Verbindungsstraße von Salzhemmendorf nach Lauenstein
Foto1739: Rund 50 Freunde, Verwandte und Nachbarn warteten am Ortsschild auf den Lauensteiner
Foto1742: Angeführt von Ragnar Kessler kamen die Wandergesellen auf Lauenstein zu
Foto1759+1762+1766+1771+1775+1781+1785: Mit Hilfe der Wandergesellen wurde das Ortsschild erklimmt und symbolisch der Weg von der einen zur anderen Familie vollzogen
Foto1818+1832: Zuerst wurde seine Verlobte in den Arm genommen
Foto1878: Auch für Vater Marco Kessler wurde es bei der Umarmung emotional
Foto1887: sichtlich bewegt wurden alle der Reihe nach begrüßt
Foto1891: Nach der Begrüßung am Ortsschild zogen alle noch weiter zur Party bei Onkel und Tante in Lauenstein
Foto24: Ragnar Kessler vor den Pyramiden von Gizeh
Foto28-2+28-3: Beim hinduistischen Holy-Fest in Nepal wurde es bunt
Foto28-4: Klassische Zimmermannsbaustelle bei Toulouse in Frankreich
Foto28-5: Auch das Taj Mahal in Indien sah Ragnar Kessler auf seiner Walz
Foto28: Ragnar Kessler in Irland
Foto29-2+29: Die Rote Wüste in Saudi-Arabien war auch Teil der Walz
Foto29-3: Gebaute Schiebetüren in Israel
Foto29-4: Ragnar Kessler bearbeitet Schiebetüren in Israel
Foto29-5: Der Blick auf die Pyramiden in Ägypten war beeindruckend
Foto30: Am Fuß des Mount Everest in Nepal