Streiks in Duingen im Jahre 1920

Das Duinger Flecken- und Ratsarchiv birgt so manche Überraschung / Alte Gewerkschaftsunterlagen vermitteln Blick hinter die Kulissen

Duingen (gök). Naturgemäß ändert sich mit der Zeit auch das Verständnis, was in einem kommunalen Archiv gesammelt und verwahrt werden soll. Lag früher der Schwerpunkt eindeutig auf der Aufbewahrung amtlichen Schriftguts, so ist mittlerweile „ausdrückliches Ziel der Überlieferungsbildung in kommunalen Archiven, auch die jeweilige lokale Lebenswelt abzubilden“. Dies spiegelt sich im Bestand des Duinger Archivs aber bislang nur sehr bruchstückhaft wider. Nachdem über lange Zeit keine nennenswerte Archivarbeit stattgefunden hatte, soll nunmehr verstärkt das Augenmerk auch auf solche  Materialien aus der Duinger Geschichte gelegt werden. So konnten schon Ehrenurkunden für langjährige Gewerkschafts-Mitgliedschaften von Duinger Bürgern in Verwahr genommen werden. Insgesamt aber ist die Geschichte der Duinger Arbeiterschaft in der Vergangenheit eher vernachlässigt worden und weist noch erhebliche Bestands-Lücken auf.

Als kürzlich aus Bochum ein Brief der „Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, Archiv für soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets“ beim Duinger Archiv einging, war dies schon etwas Besonderes, schließlich tritt nicht immer ein so renommiertes Archiv mit dem doch weithin unbekannten Duinger Archiv in Kontakt. Der Grund lag in der Tatsache, daß dieses Archiv im Besitz von gleich zwei gebundenen Kopien des „Protokoll-Buchs des Verbandes der Töpfer u. Berufsgenossen“ aus Duingen war und hier nun anfragte, ob obiges Protokollbuch in Duingen bekannt sei oder sogar zu dessen Beständen gehört. Letzteres ist der Fall: zu den Beständen des Duinger Archivs zählt sowohl das Original des gebundenen Protokollbuchs als auch zwei ebenfalls gebundene Kassenbücher der dazugehörigen Sterbekasse. Auf das Angebot der Bochumer Stiftung, eine der Dubletten zu übernehmen, wurde freudig eingegangen, haben wir damit doch neben dem Original ein weiteres „Arbeitsexemplar“. Die Stiftung teilte mit, daß sich die Kopie im Bestand der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik befand, deren Archiv Anfang des Jahrtausends dorthin gelangt ist. Die berechtigte Frage, wie das Original- Protokollbuch in den Bestand des Duinger Archivs gelangt sei, konnte leider nicht beantwortet werden, da es hierüber keinerlei Unterlagen gibt. Es ist zu vermuten, daß es nach dem Tod eines örtlichen Gewerkschaftsfunktionärs schon vor geraumer Zeit dem Archiv in Duingen übergeben worden ist; ebenso ungeklärt ist, wie die Kassenbücher den Weg ins Duinger Archiv gefunden haben.

Das Protokollbuch zusammen mit den „Nebenbüchern“ ist von goßer Bedeutung insbesondere für die Duinger Ortsgeschichte, zumal uns aus der damaligen Arbeiterschaft  viele auch heute noch in Duingen bekannte Familien-Namen begegnen. Darüber hinaus sind die Bücher von herausragender Bedeutung auch für die  allgemeine Sozialgeschichte. Natürlich müssen die Einträge  aus der damaligen Zeit heraus unter ihren ganz besonderen Umständen verstanden werden, was unbedingt eine kritische Bewertung erfordert. Die Aufzeichnungen harren somit noch einer umfassenden und sachkundigen Auswertung z.B. in Form einer (studentischen) Semesterarbeit o.ä.. Bei fachlicher Aufarbeitung von kompetenter Seite sind hier interessante Ergebnisse zu erwarten.

Natürlich ist das Archiv auch weiterhin an der – ggf.  auch nur leihweisen – Überlassung  aller Arten von historischen Unterlagen interessiert.

 

Was hat es nun mit diesem Protokollbuch auf sich. Die Eintragungen beginnen auf Seite 1 mit der ersten ordentlichen Versammlung im Versammlungslokal von Gastwirt Veit am 2. April 1914 und endet mit der letzten Eintragung vom 8. Nov. 1930 auf Seite 146. Die weiteren Seiten sind herausgerissen, laut handschriftlichem Eintrag auf dem ersten Blatt „…(enthält) dieses Buch 186 Seiten“.

Während die Eintragungen der Versammlungen während des Ersten Weltkriegs leider äußerst spärlich sind, geben sie für den Zeitraum der zwanziger Jahre geradezu intime Einblicke in die damalige bewegte Gewerkschafts- und Arbeiterwelt in Duingen. So werden wir unmittelbare Zeugen u.a. der internen Absprachen zu Lohnverhandlungen. Auch von  Unterstützungszahlungen an arbeitslose Mitglieder wird berichtet. Natürlich werden neben Urlaubsfragen auch wiederholt und ausgiebig die konkreten Lohnforderungen protokolliert, nur ist es wenig sinnvoll, die einzelnen Zahlen zu nennen. Die Angaben beziehen sich oftmals nur auf prozentuale Werte, wobei noch zusätzlich stark nach einzelnen Tätigkeitsmerkmalen differenziert wird. Hier bedarf es noch einer vertiefenden und vergleichenden Untersuchung, um zahlenmäßig sachgerecht mit der Gegenwart vergleichbare Lohnbeträge zu ermitteln.

Im Zusammenhang mit den Lohnforderungen werden wir aber auch über Streikvorbereitungen und -durchführungen informiert.. So ist beispielsweise auf Seite 20 zu lesen:

Generalversammlung am 25. Mai 1920 4 Uhr nachm.  Tagesordnung: Streiklage.

Am 25.Mai 1920 trat die Belegschaft der Norddeutschen Steinzeugwerke Gebr Muhle, und der Duinger Tonwaren-Fabrik Steinberg in den Streik ein, nachdem die geforderten Zuschlag der Teuerungszulagen abgeschlagen wurde. Als Streikposten werden folgende Kollegen bestimmt… Die Notstandsarbeiten werden bis zum 26. Mai mittags 12Uhr weitergeführt. Der Pferdepfleger B… füttert des morgens, mittags und abends die Pferde und bewegen derselben.   …“

Seite 21:  „Versammlung am 26/5 1920 1 Uhr mittags

Die Firma Steinberg  hat sich bereit erklärt. Den Kollegen 75% Zuschlag auf die Teuerungszulage zu gewähren, und dasselbe wurde von den Steinbergschen Kollegen einstimmig angenommen. Die Streiktage wurden voll bezahlt. Die Arbeit wird in demselben Betrieb am 27. Mai wieder aufgenommen.  Der Magistrat von Duingen stellte den Antrag, den Ort mit Licht zu speisen, der Antrag wurde angenommen, sollte sich der Unternehmer weigern, so soll es mit Gewalt durchgesetzt werden…“ Hierzu ist anzumerken, daß vom Generator der „Norddeutschen“ die Gemeinde und einige Privathaushalte mit elektrischem Strom versorgt wurden.

Man tagte täglich, so auch am 27. Mai abends 7 Uhr. Dazu heißt es u.a. : „… Der Betriebsleiter H… hat am morgen den 27. Mai 10 Uhr den Ofen 3 der Streikleitung übergeben, derselbe ist am Nachmittage desselben Tages ausgebrannt.“  Es folgt der Beschluß vom 28. Mai 10 Uhr: Arbeitsaufnahme 28. Mai mittags 1 Uhr

Ein weiterer Streik  ab Juli 1920:

„Betriebsversammlung der Norddeutschen Steinzeugw. Am Mittag den 31. Juli 1920. nachdem die Betriebsräte in das Kontor der Nordd. Steinzw. geladen waren und der Direktor ihnen erklärte, daß die Firma ab 7.8. einen Abzug von 25% machen wollte, legten am Mittag den 31.7. sämtliche Arbeiter die Arbeit nieder. Von den 71 abgegebenen Stimmen waren 62 für und 9 gegen den Streik.“

Am 15. September wurde das Streikende beschlossen, Arbeitsbeginn am nächsten Tag „morgens 6 Uhr… mit den in Frage kommenden 20 Mann.“

Auch über die Forderungen, von der Firma offensichtlich entlassene Mitglieder wieder einzustellen,werden Beschlüsse gefaßt. Auf weitere interessante Einzelheiten der Streiks und anderer Tarifangelegenheiten kann an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden.

Am 27.10.1920 „…wurde beschlossen, die Gelder der Lokalkasse, welche sich bis jetzt bei der Darlehenskasse Duingen befinden, in Zukunft bei der Konsum-Sparkasse gebracht würden.“

Ein interessanter Eintrag vom 6.11.1921: „Im Punkte Verschiedenes wurde beschlossen, daß der 9. November von mittags 12 Uhr gefeiert wird.“ Davon, daß man auch in Duingen in die reichsweite Gewerkschaftsbewegung eingebunden war, zeugt ein Eintrag vom 2. Mai 1922 anläßlich der bevorstehenden Konferenz der Steinzeugarbeiter: „Zur Konferenz, welche in Berlin am 5. Mai stattfindet, wurde der Vorsitzende F. B… einstimmig gewählt. Für Arbeitsversäumnis, Fahrt und Spesen wurden ihm 1.000,- M aus der Lokalkasse bewilligt.“   Dieser aus heutiger Sicht üppige Betrag muß allerdings vor dem Hintergrund der grassierenden Inflation gesehen werden.

Immer wieder taucht die Forderung nach einer Badeanstalt auf. Hierbei dürfte es sich wohl nicht um ein Freibad im landläufigen Sinne sondern um eine betriebseigene Wannen-Badeanstalt gehandelt haben, zumal auch die „Gewerbeinspektion“ ins Spiel gebracht wurde. Auch andere ganz praktische Fragen wurden angesprochen. Unter dem 23 Juni 1920 heißt es: “Es sollte der Antrag durchgesetzt werden, daß die Klosetts auf dem Nordd. Steinzeugwerke regelmäßig gereinigt werden, diese Arbeit soll abwechselnd von den Arbeiterinnen ausgeführt werden.“  Für den 28. und 29. Juni 1925 wurde ein Fest geplant; Tanzgeld für die Herren 2 M. Für Damen 1 M den ersten Festtag…Für die arbeitslosen Kollegen wird das Tanzgeld am 2. Tage noch bekanntgegeben. Auf der Sitzung vom 2.12.1925 wurde bezüglich der Einnahmen des Festes beschlossen: „Der Überschuß von 158,60 M soll unter den Kollegen welche am Aufbau der Zelte gearbeitet hatten stundengemäß aufgeteilt werden. Kollegen welche ausgetreten oder ausgeschlossen sind haben hieran keinen Anspruch mehr.“ Zu einer Vortragsversammlung am 18.10. 1925 zu dem Thema „ Die Bedeutung des Baugewerksbundes in der Baugewerkschaft und in den Gewerkschaften“ waren immerhin 62 Kollegen erschienen!

Einen Anhalt für die politische Ausrichtung zeigt der Wunsch eines Mitglieds in der Versammlung vom 30. April 1927, den  „Poten-kin Film“ vorzuführen, was auch beschlossen wurde.  Bei dem Film handelt es sich offensichtlich um den kommunistischen Propaganda-Stummfilm  „Panzerkreuzer Potemkin“ des sowjetischen Regisseurs  Eisenstein, mit dem die fehlgeschlagene Revolution aus dem Jahre 1905 im zaristischen Rußland verherrlicht wird.

Ergänzend zum Protokollbuch  werden im Archiv auch das Mitglieds- und Zahlungsbuch (1926 bis 1968) und das Kassenbuch (1926 bis 1970) der „Sterbekasse der Baugewerkschaft Duingen“ verwahrt. Hierzu ist anzumerken, daß man in der Generalversammlung vom 6.1.1923 beschlossen hatte, in den Baugewerksbund überzutreten und am 3. Januar 1926 beschloss, für seine Mitglieder auch eine Sterbekasse zu gründen. U.a. bestand hier eine Zahlungspflicht auch beim Tod der Ehefrau eines Mitglieds. Die schon zuvor erwähnte Inflation spiegelt sich auch darin wider, daß beispielsweise am 1. Dezember 1922 beschlossen wurde, der Witwe eines verstorbenen Mitglieds an Stelle eines Kranzes 2.000,- RM auszuzahlen!

Bemerkenswert sind Zahlungsbuch-Einträge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach, beispielsweise:

„Das Mitglied Willi L… starb am 30. November 1943 den Heldentod. Der Sargbetrag in Sa. 70,00 Mk ist der Ehefrau heute ausgezahlt. Duingen, den <30.1.1944>  „Unterschrift“  Auguste L…. 

Ein anderer Eintrag vom November 1945: „Wie erst jetzt bekannt wird, starb im Juni 1943 Mitglied Willi B… den Heldentod. Der Sargbetrag <80,00 Mk> ist heute der Ehefrau ausgezahlt. Duingen, den 6. November 1945 „Unterschrift“ B…, Frieda

Noch im Jahre 1951 wurde für den am 27. November 1944 gefallenen (Eintrag: …“starb den Heldentod“) Friedrich K… der Sargbetrag von 80,00 Mk ausgezahlt.

 

Foto: Archivar Günter Jahns bei der Arbeit