In der orthodoxen Synagoge in London gibt es Applaus für das Stolperstein-Projekt

Gemeindeverband Saaletal erwidert Besuch der Familie Davidson

Salzhemmendorf/London. Erich Davidson war sechzehn Jahre alt, als er 1939 mit einem der Kindertransporte nach England geschickt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit seinen Eltern und einer Cousine in einem Haus in Salzhemmendorf gelebt, das die Schlachterei seines Vaters und die Synagoge der kleinen jüdischen Gemeinschaft beherbergte. Vom Rest seiner Familie getrennt – ihnen gelang später die Flucht nach Argentinien – arbeitete er in England als Farmer, lernte seine spätere Frau Della kennen, gründete eine Familie und bekam drei Kinder.
Er kehrte nie wieder nach Deutschland zurück. Doch seine drei erwachsenen Kinder waren dabei, als im April 2016 im Gemeindeverband Saaletal 18 Stolpersteine verlegt wurden, um an Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Jetzt hat eine Gruppe aus dem Gemeindeverband den Besuch erwidert und ist nach London gereist.
Andrea Gärtner war vierzehn Jahre alt, als sie das erste Mal die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau besuchte. Während sie schockiert war über die Grausamkeiten, die in ihrem Land geschehen waren, standen zur gleichen Zeit andere Jugendliche in Bomberjacken und Springerstiefeln dort und grölten dumpfe Parolen.
Andrea Gärtner arbeitet heute als Diakonin im Gemeindeverband Saaletal und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den KonfirmandInnen und anderen Jugendlichen in ihren Gemeinden die erschreckende deutsche Vergangenheit bewusst zu machen. Seit 2007 besucht sie mit Konfirmandengruppen Häuser in Salzhemmendorf, in denen früher jüdische Familien gelebt haben und erzählt von deren Schicksalen. Dazu gehört auch das Schicksal der Familie Davidson, für die Trennung der einzige Weg war, ihr Leben zu retten.
Im vergangenen Jahr wurden im Rahmen solcher Konfirmandenprojekte Stolpersteine verlegt. Diakonin Gärtner und Pastorin Sabine Ahlbrecht aus Lauenstein, die mittlerweile das Projekt ebenfalls begleitet, nutzten die recherchierten Fakten des Historikers Bernhard Gelderblom, sammelten Spenden in den Orten und luden den Künstler Gunter Demnig ein. Außerdem schrieben sie nach London an die drei heute erwachsenen Kinder von Erich Davidson und luden sie ein, bei der Verlegung dabei zu sein.
Marion, Melvyn und Beverly standen neben den Jugendlichen, die diesen Tag vorbereitet und begleitet haben, als die Steine für ihre Verwandten ins Pflaster gelegt wurden. Im Anschluss luden sie zum Gegenbesuch nach London ein.
Dieser Einladung ist nun eine kleine Delegation aus dem Saaletal gefolgt. Die Mitglieder der Familie Davidson hatten gemeinsam mit Diakonin Gärtner und Pastorin Ahlbrecht ein Programm für Mitglieder des Jugendmitarbeiterkreises und weitere interessierte junge Erwachsene in der britischen Hauptstadt vorbereitet, um das jüdische Leben dort kennenzulernen.
Dazu gehörten eine Führung durch das alte jüdische Viertel „East End“ mit der ältesten englischen Synagoge Bevis Marks von 1701, der Besuch bei World Jewish Relief – einer Organisation, die maßgeblich an der Durchführung der Kindertransporte beteiligt war – und eine Einladung zum Tee, bei er auch andere jüdische Gemeindeglieder zum Gespräch geladen waren. Das eigentliche Highlight aber war die Einladung zur Sabbatfeier in einer orthodoxen Synagoge, zu deren Gemeinschaft einige Mitglieder der Familie Davidson gehören.
Die kleine christliche Gruppe war aufgefordert, von dem Projekt der Stolpersteinverlegung in Salzhemmendorf zu berichten. So standen schließlich Diakonin Gärtner, Pastorin Ahlbrecht und die Jugendmitarbeiterin Nicole Winckler vor dem Schrein, in dem die Thorarollen kurz zuvor wieder liebevoll und feierlich verstaut worden waren, und erzählten von ihrer Arbeit in den deutschen Dörfern. Die knapp 150 jüdischen Männer und noch einmal etwa 50 jüdischen Frauen hinter den Absperrungen, die während der Sabbatfeier oft und viel geschwatzt hatten, lauschten gebannt und schweigend den Ausführungen.
Nicht nur, dass das Projekt der Stolpersteine ihnen bis dahin gänzlich unbekannt war. Dass eine Gruppe Christen und Christinnen, die mit der Geschichte der Juden eigentlich nichts zu tun haben, sich derart um sie bemühen, stieß auf Erstaunen, Freude und Hochachtung. So erhoben sich die Juden klatschend nach dem Vortrag und viele von ihnen kamen beim anschließenden Kaffeetrinken auf die kleine Reisegruppe zu, um sich zu bedanken oder nach Details zu fragen.
Alle Beteiligten erlebten diesen Tag, die Begegnungen und Erzählungen als besonders intensiv und emotional. Tränen der Rührung flossen und das Versprechen, in Kontakt zu bleiben und die gegenseitigen Besuche weiter zu pflegen, wurde mehrfach ausgesprochen.
Natürlich standen bei der kleinen Gruppe aus dem Saaletal auch ein deutscher Gottesdienst, ein Besuch der St. Pauls Cathedral und diverse touristische Attraktionen, wie eine Theatervorstellung im West End, eine London-by-night-Bustour oder ein Einkaufsbummel auf dem Camden Lock Market auf dem Programm. Doch waren sich am Ende alle einig: die Zeit mit der Familie Davidson, das herzliche Willkommen in der jüdischen Gemeinschaft und die besonderen Privilegien, die der Gruppe zuteilwurden, werden allen lange im Gedächtnis bleiben und schüren schon jetzt die Sehnsucht nach einer Wiederholung.

Bilder:
Die Besucher und Besucherinnen aus dem Gemeindeverband Saaletal genossen wie hier im Hyde Park die touristischen Sehenswürdigkeiten Londons, doch die Begegnung mit der jüdischen Gemeinde berührte alle am meisten.

Bei einer Begegnung zum Tee war für die Gäste aus dem Saaletal Gelegenheit zum Gespräch mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde.

Text und Fotos: Andrea Gärtner