Das Leid bekommt ein Gesicht

Neue Erkenntnisse durch Zeitzeugen über die Salzhemmendorfer „Russen-Burg“

Salzhemmendorf (gök). Die Zahlen sind auch heute noch unvorstellbar. Rund 10 000 Zwangsarbeiter waren während des Zweiten Weltkrieges im Kreis Hameln-Pyrmont beschäftigt, wobei der Landkreis damals noch viel kleiner als heute war. „Jeder zweite Arbeiter in der Landwirtschaft und jeder vierte Arbeiter in der Industrie war ein Zwangsarbeiter“, stellte Bernhard Gelderblom im Gespräch klar.

Der Hamelner Historiker beschäftigt sich schon seit rund 30 Jahren mit dem Thema Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg und hatte dazu auch mit vielen Familien aus Russland und anderen Ländern Briefkontakt. 2006 erschien dazu von ihm das Buch „Ausländische Zwangsarbeit in Hameln und im Landkreis Hameln-Pyrmont 1939-1945“ (ISBN 978-3931656966), für das er lange recherchiert hatte. Letztes Jahr kam er bei einer Veranstaltung mit Burkhard Bösterling aus Ockensen über den Salzhemmendorfer Steinbruch und die dortige Zwangsarbeit ins Gespräch. Gelderblom nahm sich zusammen mit dem Bildhauer Bösterling der Zwangsarbeit in den Salzhemmendorfer Steinbrüchen und Kalk- und Dolomitwerken noch einmal genauer an. Dazu wurden auch Zeitzeugen aufgesucht und mit ihnen gesprochen. Die Ergebnisse wurden nun bei einer vom Ortsrat Salzhemmendorf veranstalteten Versammlung vorgestellt, wo das Interesse alle Beteiligten überraschte. Fast 100 Menschen aus der Region waren der öffentlichen Aufforderung gefolgt und im Ratskeller Salzhemmendorf erschienen, wo Ortsbürgermeister Karsten Appold als Moderator durch den Abend führte.

„Ich komme gerne nach Salzhemmendorf. Es ist nicht selbstverständlich, dass man so unterstützt wird“, war Gelderblom dankbar. Die Gräber der umgekommenen mindestens sieben russischen Kriegsgefangenen sollen nach dem Willen von Gelderblom und Bösterling ein Teil der Geschichte von Salzhemmendorf werden. Bei der Hierarchie der Zwangsarbeiter standen Polen und Russen ganz weit unten und hatten besonders zu leiden. Die Arbeit im Steinbruch war schon für die deutschen Arbeiter sehr gefährlich, für die Russen kamen dann noch die Drangsalierungen sowie die lebensfeindlichen Umstände unter anderem mit wenig Nahrung hinzu. 1940 schrieb die VOSKA – die Vereinigte Osterwald-Salzhemmendorfer Kalkwerke – an den Landrat, dass Kriegsgefangene für vordringliche Arbeiten benötigt werden. 1943 waren dann schon weit über 100 Kriegsgefangene alleine in dem Kalk-Werk Biermann & Pieper in Salzhemmendorf tätig, was sich bis Ende des Krieges fortzog. 

Adolf Hitler hatte den Krieg gegen die Sowjetunion als Vernichtungskrieg definiert und entsprechend ging man auch mit sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland um. Die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen hatte in Deutschland für Russen keine Bedeutung. Nach Infos von Zeitzeugen wurde auch mindestens ein Wachmann der Wehrmacht aus Salzhemmendorf für Kriegsverbrechen in dem Steinbruch verurteilt. Hermann Döpke wusste bei der Versammlung zu berichten, dass ein ehemaliger Wachmann Salzhemmendorf später noch einmal aufsuchte und wegen seines Prozesses nach Entlastungszeugen suchte. In anderen Orten wurden für russische Kriegsgefangenenlager noch nicht einmal Baracken gebaut. Bestimmte Gebiete wurden einfach mit Stacheldraht eingezäunt und die Gefangenen sich selbst überlassen. Die häufigste Todesursache in solchen Lagern war das „Ersticken in der Höhle“. „Die Juden und politischen Kommissare unter den Russen wurden dazu noch von der Gestapo erschossen“, beeindruckte Gelderblom die Anwesenden sichtlich mit seinen Ausführungen. Mit einem mit Ölfarbe geschriebenen „SU“ auf dem Rücken wurden die Russen gekennzeichnet, so dass auch Fluchtversuche fast immer scheiterten. 

Trotzdem unternahmen die Russen auch in Salzhemmendorf vermutlich aufgrund der schlimmen Umstände im Lager immer wieder Fluchtversuche. Nach dem ersten Fluchtversuch wurden sie noch zurückgebracht, wenn sie gefasst wurden. Nach einem zweiten Fluchtversuch wurden sie meist erschossen. Belegt sind in Salzhemmendorf mindestens acht Fluchtversuche, wobei die Dunkelziffer viel höher liegen dürfte.

In Salzhemmendorf sind mindestens sieben russische Kriegsgefangene umgekommen, was nach einem Schreiben aus dem Archiv des International Tracing Service aus Bad Arolsen belegt ist. Die Alliierten verlangten nach dem Krieg von jeder Gemeinde einen Nachweis über zu Tode gekommene Kriegsgefangene. Auf dieses Dokument stieß dann auch Gelderblom bei seinen Nachforschungen. Ein Grabstein in Rehren-Auetal zeugt von Konstantin Dianow, Dechorov Afanganow, Anbak Akulow, Salisch Tosfaow, Lew Kassatkin, Stephan Konoplja und einem unbekannten Soldaten. In den sechziger Jahren wurde die Gebeine der Toten von Salzhemmendorf nach Rehren-Auetal umgebettet, wovon Gelderblom und Bösterling erst durch den Salzhemmendorfer Dorfchronisten Klaus Grote bei ihren Nachforschungen erfuhren. 

Besonders betroffen war Gelderblom bei der Geschichte von Lew Kassatkin. Dieser wurde am 4. Oktober 1943 laut Wehrmachtsprotokoll auf der Flucht von einem Wachmann erschossen. Auf dem Weg zur Arbeit um 6.50 Uhr morgens wollte er im Wald austreten. Als er laut Protokoll in den Wald ging, fing er an Richtung Buschwald zu laufen. Mit einem Kopfschuss wurde er niedergestreckt, was für Gelderblom aufgrund der dunklen Lichtverhältnisse eine sehr unwahrscheinliche Version war. 60 Meter unterhalb der als sogenannter „Russen-Burg“ vorhandenen Gebäude im Steinbruch wurde er beigesetzt. Bei Salisch Tosfaow dagegen wurde als Todesursache „allgemeine Schwäche“ vermerkt, was auch wieder als Beleg für die Zustände im Salzhemmendorfer Lager diente. Bei Konstantin Dianow und Stephan Konoplja waren „Betriebsunfall“ und „Unfalltod“ als Todesursachen benannt. Zu den anderen Toten wurden keine Akten mehr gefunden. 

Zeitzeugen äußerten aber bei der Veranstaltung im Salzhemmendorfer Ratskeller die Vermutung, dass noch mehr Kriegsgefangene umgekommen sind. Ein anwesender Thüster etwa geht von 13 toten Kriegsgefangenen in Salzhemmendorf aus, die oberhalb des jetzigen sogenannten Frühstückshauses am Steinbruch in U-Form beerdigt wurden. Er nimmt an, dass eventuell noch Akten vom damaligen Amtsgericht Lauenstein im jetzigen Amtsgericht in Hameln vorhanden sein könnten. Sehr konkrete Erinnerungen hatte auch noch Günter Stoy aus Salzhemmendorf, der als Kind aus dem Sudetenland nach Salzhemmendorf kam und nach dem Krieg nach erster Unterbringung im Bogshorn in der Russen-Burg aufwuchs. Er konnte genau beschreiben, welche Gebäude bewohnt waren und wie sie standen. Die Gräber der Kriegsgefangenen wurden ihm als Kind gezeigt und von den Umständen des damaligen Lebens wusste er eindrucksvoll zu berichten. 

Gelderblom erklärte den Anwesenden auf Nachfrage, dass Nachforschungen zu den Angehörigen in Russland sehr schwierig sind und kaum Aussicht auf Erfolg haben. „Ich bin da irgendwann gestrandet und nicht mehr weitergekommen“, erzählte er von seinen Nachforschungen in dieser Richtung. Nach weiteren Ausführungen von Zeitzeugen gab es auch einige Salzhemmendorfer, die gut zu den Russen waren und ihnen Nahrung zusteckten. Manfred Schneppe aus Hemmendorf etwa wusste von Begegnungen in der Siedlung Grünenplan zu berichten, wo die Russen regelmäßig zu Essen bekamen. Nach seiner Erinnerung wurde ihm als Kind berichtet, dass im Lager damals auch Ruhr ausbrach und einige Russen daran gestorben sind. Die Geschichten von vielen Erfahrungen haben in Salzhemmendorf Spuren hinterlassen und dank der aufgefundenen Dokumente von Gelderblom dem Leid ein Gesicht gegeben, an das man sich erinnern kann. „Man muss sich schämen, was die Nazis hier angerichtet haben“, bekannte Hermann Döpke, der als Jugendlicher von 1956 bis 1959 im Dolomitwerk gelernt hat und einige Geschichten von älteren Mitarbeitern wiedergeben konnte.

Aufgrund der sehr guten Resonanz der Versammlung schlug Bösterling auch ein Treffen ehemaliger Bewohner der „Russen-Burg“ vor, wo noch einige Erlebnisse aufgearbeitet werden könnten. Bösterling hat eine Stele im Modell entworfen, mit der man unterhalb des ehemaligen Friedhofes oberhalb des jetzigen Frühstückshauses an diese dunkle Zeit in Salzhemmendorf erinnern kann. Vervollständigt wäre der Ort dann durch eine Infotafel daneben und durch zwei Stäbe auf dem Steinbruchgelände, wodurch sich auch der jetzige Besitzer der Vergangenheit bekennen könnte. Ein weiterer Stab in Rehren-Auetal mit einem versehenen QR-Code könnte dann einen Querverweis nach Salzhemmendorf liefern. „Der Standort wäre ein Ort, der viel Geschichte in sich birgt und damals heimische Steinbrucharbeiter und die Zwangsarbeiter zusammenführte. Die Stele würde aus sieben Teilen bestehen, die drehbar wären und den Ausbruch aus einem totalitären System symbolisieren könnte“, erklärte Bösterling den Anwesenden. Auch Gemeindebürgermeister Clemens Pommerening zeigte sich von der Veranstaltung beeindruckt in den Schlussworten der Veranstaltung: „Der Steinbruch ist ein sehr interessanter Punkt für die Geschichte von Salzhemmendorf und dabei nicht immer ruhmesreich. Ich habe das Gefühl, das war hier kein Abschluss einer Arbeit, sondern ein Auftakt. Die Geschichten hinter den betroffenen Menschen berühren einen noch mehr!“

Foto3616: Karsten Appold im Gespräch mit Bernhard Gelderblom und Burkhard Bösterling

Foto3618: Der Saal in Salzhemmendorf war voll besetzt – fast 100 Besucher waren erschienen

Foto3619: Bernhard Gelderblom bei seinen Ausführungen

Foto3620: Burkhard Bösterling erklärt sein Vorhaben mit dem Erinnerungsort

Foto3621: Auf dem Friedhof in Rehren-Auetal zeugt dieser Grabstein von sieben in Salzhemmendorf umgekommenen russischen Kriegsgefangenen

Foto3622: Auf diesem Bild von Barbara Stender sind die Gebäude der Russen-Burg oben links zu erkennen

Foto3623: Lew Kassatkin wurde in Salzhemmendorf erschossen

Foto3624: Vermerk über den Tod von Kassatkin

Foto3625: bei Oberleutnant Stephan Konoplja wurde „Unfalltod“ als Todesursache angegeben