Mit 21 Jahren auf große Wanderschaft

Ragnar Kessler aus Lauenstein geht drei Jahre auf die Walz

Lauenstein (gök). Für Marco Kessler und Andrea Nickel ist es bestimmt nicht einfach, aber ihr Sohn Ragnar Kessler hat die Entscheidung ganz bewusst getroffen. Der 21jährige aus Lauenstein hat nach seiner abgeschlossenen Zimmermannslehre bei der Zimmerei Grupe in Coppenbrügge beschlossen, dass er drei Jahre und einen Tag auf die Walz geht und damit einer jahrhundertealten Tradition folgt. Laut der Regeln des Rolandschachts – einer Gesellenvereinigung – sollte der Wandergeselle nicht älter als 27 Jahre, ledig, kinderlos und schuldenfrei sein. Auch die Nutzung eines eigenen Autos oder Handys auf der Walz sind verboten.

Der Abschied wurde Ragnar Kessler von insgesamt 32 bekannten Zimmerleuten versüßt, unter denen sich auch acht Zimmerfrauen befanden. Bei der zünftigen Losgehfeier auf der Appelburg in Lauenstein war auch für viele Leckereien sowie Platte – ein Schlafplatz für jeden Teilnehmer – gesorgt. Bei dieser Feier wurde auch das obligatorische Ohrloch gestochen. Der Ohrring ist auf der Walz Pflicht, wobei die Umsetzung für Außenstehende schon gewöhnungsbedürftig ist. Das Ohrläppchen wird auf einen Holzbalken gelegt, ein schmiedeeisener Eisennagel gezückt und mit dem Zimmermannshammer das Loch in Windeseile geformt. Zur „Sicherheit“ wurde Ragnar Kessler davor mit ein paar Schnäpsen betäubt und auch die Wunde dann desinfiziert, ehe der goldene Ohrring gesteckt wurde. Der Zweck des Ohrrings war in früheren Jahren ein wichtiger, da die Familie in manchen Fällen nicht schnell genug erreicht werden konnte. Mit dem Ohrring wurde damals im Falle des Todes die Beerdigung des Wandergesellen bezahlt. Zusätzlich zeugt der Ohrring auch von der Ehrhaftigkeit des Wandergesellen. Denn wer sich nicht ehrbar verhalten und gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen hat, dem wird der Ring herausgerissen und er ist dann ein „Schlitzohr“.

Am Tag nach der Abschiedsfeier wurde der junge Lauensteiner in Begleitung der Zimmerleute, Familienmitglieder und Freunden zum Ortsausgang von Lauenstein begleitet. Vorschriftsmäßig gekleidet war er in seiner Sponkluft – der Reisekleidung eines Zimmermanns – bestehend aus Zimmerhose mit großem Schlag, Staude (Hemd mit Stehkragen), Weste, Jackett, Hut, Stenz (Wanderstab) und Charlottenburger. Im Charlottenburger – einem 80 mal 80 Zentimeter großen Tuch – trägt Kessler seinen persönlichen Sitz fest verschnürt mit. So führt er dort noch Arbeitssachen, Wäsche, Werkzeug, Schlafsack und einige wenige persönliche Dinge mit sich. Gemäß der Tradition hat er zu Beginn noch eine Taschenuhr an der Kette, ein Rolandschacht-Wanderbuch, ein privates Wanderbuch, eine Salami und fünf Euro in bar als Taschengeld dabei.

Obligatorisch ist bei jedem Abschied eines Wandergesellen auch das verbuddeln einer halben Flasche Schnaps, die vom Abschiedsumtrunk vor Ort übriggelassen wurde. Diese muss mindestens 80 Zentimeter tief frostsicher vergraben werden. Nach zwei Stunden beschwerlichem Graben mit Stöckchen, Löffel und Spaten war dann die Flasche endlich versenkt, wobei die Kollegen mit dem geeichten Zollstock die Tiefe auch besonders genau nachgemessen haben. Nach der Schließung des Erdlochs säte Andrea Nickel an der Stelle schließlich Blumen, damit man diese dann wiederfindet. Denn nach der Rückkehr nach drei Jahren, darf er die Flasche wieder ausgraben und den Inhalt als Begrüßungsschluck austrinken.

Nach dem Vergraben wurde es dann ernst und durchaus die ein oder andere Träne beim Abschied weggedrückt. Der Charlottenburger wurde zuerst über das Ortsschild geworfen, ehe Ragnar Kessler der Tradition nach selber darüber klettern musste. Seine Freunde halfen ihm mit einer Räuberleiter auf das Ortsschild, wo er rückwärts rüberklettern musste. Im Anschluss ließ er sich dann in die Arme seiner Zimmerer fallen. Nun war er außerhalb seiner Heimat Lauenstein und befindet sich nun im Bannkreis von 60 Kilometern, den er drei Jahre nicht betreten darf. Auf dieser Seite des Ortsschilds angekommen, durfte sich der neue Wandergeselle nicht mehr umdrehen und musste mit Blick geradeaus auf dem kürzesten Weg seine Wanderung aus dem Bannkreis antreten. Zu Fuß oder per Anhalter geht es auf die Wanderschaft auf der Suche nach Arbeitgebern, wo nach Möglichkeit gegen Kost und Logis gearbeitet wird. Zur Not wird aber auch in freier Natur übernachtet.

In der Probezeit über drei Monate wird der Lauensteiner von dem Exportgesellen Marius Jäger begleitet, der schon länger reist und entsprechend erfahren ist. Er unterstützt ihn am Anfang und gibt im Tips, gilt doch auch in dieser Probezeit ein absolutes Kontaktverbot mit seiner Familie.

Nach der Probezeit wird er im Rolandschacht aufgenommen und wandert alleine. Postalisch und per email darf er sich dann Zuhause melden, damit seine Familie weiß, dass es ihm gut geht und so den Kontakt hält. Die Welt als Wandergeselle steht Kessler jetzt weit offen. Im ersten Jahr wird normalerweise der deutschsprachige Raum bereist, im zweiten Jahr Europa und im dritten Jahr der Rest der Welt. „Wir hoffen, dass es ihm in der großen weiten Welt nicht zu gut gefällt und wir ihn dann hoffentlich in drei Jahren und einem Tag wiedersehen“, so etwa sein Opa Wilfried Kessler.

Foto1339: Ragnar Kessler (3. v.r.) wird von den Wandergesellen zum Ortsausgang begleitet

Foto1386: Über das Ortsschild hinaus geht es in die große Welt

Foto1352: Die „Charlottenburger“ warten auf den Abmarsch der Wandergesellen

Foto1378: Der „Charlottenburger“ geht zuerst über das Ortsschild

Foto1371: Der Abschieds- und zugleich Begrüßungsschluck wird von Ragnar Kessler für das Erdloch vorbereitet